Nach all den Strapazen der vergangenen Tage erschien uns der Abstieg zur Laguna Ilón am Vortag vergleichsweise einfach.
Heute wollen wir lediglich eine kurze Tageswanderung zum Aussichtspunkt Mirada del Doctor machen und den Nachmittag an der Laguna Ilón genießen.
Morgen steht der lange Weg zum Refugio Rocca am Paso de las Nubes auf dem Plan.
Aber soweit sollte es nicht kommen...
Morgenstimmung an der Laguna Ilón
Ich öffne das Zelt und atme klirrend kalte Morgenluft.
Der schwarze Strand döst eingehüllt in elegantem Morgentau vor sich hin.
Feine Nebelschwaben tanzen auf der spiegelglatten Wasseroberfläche.
Gähnend erreicht das erste Tageslicht den Gletscherriesen am anderen Ende dieser Märchenwelt.
Sein Rosarot und Gold verdoppeln sich im See.
Langsam und sehr leise bereitet sich das Leben auf den Tag vor.
Schlaftrunken erwacht die Neugier der Vögel.
Eine sanfte Brise trägt den Duft frischgebackenen Brotes an meine Nase.
Guten Morgen, Tag!
Guten Morgen, wundervolle Laguna Ilón!
Wanderung zum Aussichtspunkt Mirada del Doctor
Nach einem Frühstück im Refugio, Kaffee, Mate und stundenlangem aufs Wasser blicken, machen wir uns auf den Weg zur Mirada del Doctor, einem eindrucksvollen Aussichtspunkt hoch über dem Lago Frey.
Ohne Rucksack läuft es sich gleich viel leichter.
Der Boden im Lenga-Märchenwald ist angenehm weich.
Ich bleibe immer wieder stehen, um den Duft des Grüns in mich aufzunehmen – fast so, als wüsste ich bereits, dass mein Naturabenteuer bald ein abruptes Ende finden würde.
Die Bäume sind dicht überzogen mit „barba del viejo“ – Bart des alten Mannes – wie diese für Patagonien typische Flechtenart genannt wird.
Typisch patagonischer Lenga-Wald:
Bergauf, bergab, durch Wald und Mallín erreichen wir nach etwa 1,5 Stunden den Mirador.
Sehr lange sitzen wir auf den Felsen in der Sonne und genießen den Blick über den Lago Frey und den Brazo de la Tristeza, einem der Seitenarme des Nahuel Huapi Sees.
Wir lassen uns Zeit. Denn wir haben Zeit. Jenes Leben, in dem wir keine Zeit haben, kommt uns vor wie eine absurde Sinnestäuschung.
Aussichtspunkt Mirada del Doctor:
Ffffffffschschschsch, schlagartig werden wir aus den Gedanken gerissen, denen jeder einzelne nachhängt.
Zwei Kondore fliegen so dicht über uns hinweg, dass wir die Luft des Flügelschlags hören und fühlen.
Wir sehen die weiße Halskrause des Männchens und den wulstigen Kamm über seinem Schnabel klar und deutlich.
Sie beäugen uns scharf. Unsere Existenz scheint ihnen keine größere Probleme zu bereiten, sie erkennen, dass wir keine Feinde sind.
Ffffffffschschschsch, so plötzlich wie sie aufgetaucht waren, sind sie über den Andengipfeln verschwunden.
Für ein Foto hat es nur aus der Ferne gereicht.
Aber das Geräusch ihrer weiten Flügel in der Luft, das werde ich wahrscheinlich nicht mehr vergessen.
Nachmittag an der Laguna Ilón & die Hiobsbotschaft
Am frühen Nachmittag sind wir zurück an der Laguna Ilón und wundern uns, warum alle Wanderer ihre Zelte abbauen.
Da kommt Diego, der Hüttenwirt, mit ernster Miene auf uns zu.
Wenn Du den ersten Teil unseres Bergabenteuers gelesen hast, weißt Du schon, was jetzt kommt.
Wir denken, er sagt uns, dass es heute kein Abendessen gibt.
Aber seine Worte sind um einiges gravierender als selbst kochen zu müssen:
„Ihr müsst nach Pampa Linda absteigen. Der gesamte Park wird evakuiert. Alle argentinischen Nationalparks schließen wegen Corona.“
EVAKUIERT??? CORONA???
Während unserer einwöchigen Wanderung haben wir uns über dies und jenes Gedanken gemacht.
Aber nicht über COVID-19.
Von einem Atemzug auf den nächsten spüren wir sie wieder, die Krallen der Welt, und werden zurückgeschleudert zu jenen einsamen Gedanken, die in unseren Köpfen umhergeisterten, bevor wir uns in die Wildnis verabschiedeten.
Der Schock sitzt tief. Diego tut es leid.
Er schlägt uns einen Deal gegen die Traurigkeit vor: Er sagt den Parkrangern, wir seien erst spät am Abend angekommen, sodass ein Abstieg zu gefährlich gewesen wäre.
Damit schenkt Diego uns eine weitere Sternennacht und einen weiteren Sonnenaufgang an der Laguna Ilón.
Ich tauche erst einmal ab.
Ins klirrend kalte Wasser der Laguna Ilón, wo ich so lange bleibe, bis Hände und Füße aufgeweicht nichts mehr wahrnehmen als angenehme Kälte.
„Diego, heute machen wir alle Vorräte platt! Koch eine große Portion und bring uns sämtlichen Wein, den du finden kannst.“
Das war Juan.
So kommt es, dass wir statt früh zu schlafen, um am nächsten Tag ausgeruht neun Stunden zum Paso de las Nubes zu wandern, im Kerzenschein bei Wein mit den drei Refugieros über das Unfassbare sprechen und langsam gedanklich wieder zurück in die Welt wandern, die sich in einer Woche so komplett verändert haben soll.
Señor Ilón: Jeder Schritt ein Sonnenaufgang
Marcus.
Die tiefen Falten in seinem Gesicht erzählen von einem intensiven Leben in der Natur.
Die strahlende Zufriedenheit seiner Augen zeugt davon, dass er genau so lebt, wie er leben möchte.
Sein widerspenstiges, krauses Haar hat er zu einem Zopf zusammengebunden.
Marcus ist eigentlich kein Refugiero, aber er ist das Herz des Refugios. Und ein Urgestein des Nahuel Huapi Nationalparks, seiner Wahlheimat.
Im Refugio Laguna Ilón hilft er fleißig mit, sammelt und hackt Holz, repariert alles, was repariert werden muss.
Ihn trifft die Nachricht wie ein Schlag. „Ich kann nicht in die Stadt.“
Da ist keine Spur von Verzweiflung in seiner Stimme, lediglich Gewissheit.
„Ich werde mich einfach im Park verlieren. Und wenn ihr hört, dass Marcus nicht gefunden werden konnte, so seid gewiss, dass ich lebe.“
Auch uns rät er augenzwinkernd, uns „im Park zu verlieren“.
„Ich habe euch nie gesehen.“
An unserem letzten Morgen mache ich einen Abschiedsspaziergang um die Lagune.
Auf der anderen Seite scheint bereits die Sonne.
Dort treffe ich Marcus, den wir Juan Carlos Ilón nennen.
Er lächelt, wie nur zufriedene Menschen lächeln.
„Das Schönste am Sonnenaufgang an der Laguna Ilón ist, dass man die Sonne mit jedem Schritt in Richtung Schatten erneut aufgehen sieht.“
Das macht Señor Ilón jeden Morgen.
Er umrundet die Lagune, spaziert der Sonne entgegen.
Dadurch werden nicht nur Kopf und Herz frei. Sondern man sieht auch die Sonne aufgehen, so oft man will.
Jeder Schritt ein weiterer Sonnenaufgang.
Abstieg nach Pampa Linda
Am Nachmittag ist es soweit, wir können den Abstieg in die Zivilisation nicht weiter hinauszögern. Um 17 Uhr werden wir in Pampa Linda von einem Kleinbus abgeholt und nach Bariloche gebracht.
Der Wanderweg schlängelt sich mit kleinen Aufs und Abs durch einen wundervollen Wald.
An einem Aussichtspunkt mit Blick auf den Tronador machen wir eine kurze Pause. Viel Zeit, den Blick zu genießen, haben wir nicht, denn uns steht noch ein steiler Abstieg bevor.
Der erdige Weg ist gut ausgebaut, aber zum Teil doch etwas rutschig, sodass wir nicht ganz so schnell voran kommen wie gedacht.
Ein letztes Mal schreien die Knie vor Schmerzen auf.
Im Tal angekommen, müssen wir noch den Fluss Alerce überqueren. Das ist seit ein paar Jahren kein Problem mehr, denn aufgrund einiger tödlicher Unfälle bei der Flussdurchquerung wurde hier eine Brücke errichtet.
Wenige Minuten später erreichen wir Pampa Linda, wo Hernán und ich zwei Jahre zuvor vergeblich auf gutes Wetter warteten, um zum Refugio Meiling am Tronador zu wandern.
Heute ist das Wetter hervorragend und es soll auch die nächsten Tage so bleiben.
Das Meiling bleibt dennoch weiterhin ein Wunschtraum.
Aber wir geben nicht auf. Die nächste Reise ist geplant. Sobald es die Welt wieder zulässt.
Erinnerst Du Dich noch an Ramón, unseren treuen Begleiter 2017? Er ist einer der 111 Gründe, Argentinien zu lieben.
Natürlich erkunden wir uns am Campingplatz nach dem Mischlingshund.
Er hat sich vor etwa einem Jahr mit einer Hundedame in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Staub gemacht.
Ramón ist - wie Juan Carlos Ilón - in den Weiten des Nationalparks verloren gegangen.
Und wir?
Machen uns unwissend, was uns erwarten wird, auf den Weg in eine Welt, die binnen einer Woche durch ein Virus auf den Kopf gestellt wurde.
Auf einen Blick: Laguna Ilón bis Pampa Linda
- Entfernung: 8 Kilometer
- Höhenmeter: ↗ 66 m, ↘ 616 m
- Dauer: 2,5 Stunden
- Schwierigkeit: mäßig (Einschätzung der argentinischen Nationalparkverwaltung und des Club Andino)
- Transport Pampa Linda - Bariloche: Von Pampa Linda fahren täglich um 17 Uhr Kleinbusse nach Bariloche. Die Fahrt dauert etwa 2 Stunden und kostet 900 Pesos (Stand: März 2020).
- Übernachtung in Pampa Linda: Es gibt dort einen Campingplatz und eine Hostería.
- Wanderungen in der Umgebung von Pampa Linda:
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- Cerro Volcánico
- Paso Vuriloche (Mehrtagestour nach Chile)
- Refugio Otto Meiling
- Refugio Agostino Rocca
- Laguna Ilón
- Laguna Azul
- über Casalata und Paso Schweitzer zum Refugio Jakob (San Martín)
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