Wer Santo Domingo hört, denkt wahrscheinlich an Strände, Palmen und karibisches Flair. Ich denke an eine nicht gefundene Leiter, marode Häuser und Schafe, die vor einem alten Postkartenbahnhof grasen, und an einen Umweg zum Meer.
Einmal im Jahr gönnen wir uns eine kleine Auszeit an der Küste der Provinz Buenos Aires. Das Gefühl von Freiheit stellt sich ein, sobald wir die Betonwüste der Hauptstadt und ihrer Vororte hinter uns lassen. Jedes Jahr wählen wir eine andere Route, um auf dem Weg nach Mar de las Pampas noch ein paar Dörfer anzuschauen. 2016 wollte es der Zufall so, dass wir zwischen wolligen Vierbeinern landeten...
Waldgedanken
Ich liebe es, die unbändige Kraft der Natur zu spüren. So kommt es, dass die Erinnerung an die Langeweile im badewannenwarmen, wellenlosen Meer einer paradiesischen Insel vor der Küste Brasiliens weitgehend verblasst ist. Das nächtliche Gewitter in der Pampa hingegen hat sich ebenso eingeprägt wie der Sandsturm auf der Halbinsel Valdés, der schmerzliche Graupelschauer am Monte San Lorenzo, die vielen Platzregen in Buenos Aires oder die herbstliche Umarmung dicker Nebelschwaden in meiner schwäbischen Heimat.
Fast auf den Tag genau ist es drei Monate her, dass ich nach 5-monatiger Quarantäne nach Deutschland geflohen bin. Ich habe in dieser Zeit nicht vergessen, wie es sich anfühlte, eingesperrt zu sein und wehmütig von der Natur zu träumen. Deswegen bin ich seither jeden Tag im Wald unterwegs, egal wie grau oder verregnet es auch sein mag.
Ich genieße diese Streifzüge, weil Gedanken und Sorgen verblassen und ich voll und ganz im Hier und Jetzt, bei mir, bin.
Heute war das ein bisschen anders. Während ich über einen weichen Moos-Teppich stapfte und gerade mit stillen Liebeserklärungen an den harzigen Duft der heimischen Tannen beschäftigt war, stieg auf einmal aus den Tiefen meiner Erinnerung ein ganz anderer - ferner - Geruch in meine Nase. Der von Pinien und Meer.
Wie sagte schon Hermann Hesse, der Held meiner Jugend? „Für Erinnerungen sind Sinneseindrücke ein tieferer Nährboden als die besten Systeme und Denkmethoden."
So wurden das Moos zu Sand, die Tannen zu Pinien, der Wind zur Meeresbrise. Ich war in Mar de la Pampas.
Ich ließ die Gedanken weiterschweifen, und da kamen mir auch die Leiter und die Schafe wieder in den Sinn.
Zuhause durchforstete ich sofort die Festplatte nach Bildern, und bei Mate und Lebkuchen ging die Gedanken-Reise weiter...
Grüßende Kühe am Wegesrand
Wir sind schon ein paar Stunden unterwegs, als ein dunkelgrünes Straßenschild uns auf die Abzweigung hinweist. Wir verlassen die Ruta Provincial 2 und tauschen Asphalt gegen Erde und Staub. Das riesige grüne Schild mit seinen leuchtend weißen Buchstaben wirkt etwas übertrieben und fehl am Platz, denke ich, als der Schotter uns ordentlich durchschüttelt. Wer biegt hier schon ab? Und warum?
Der Weg führt an den dicht mit Gras bewachsenen Gleisen entlang. Von dort aus blickt uns eine Kuh erschrocken an. Nein, viele Autos kommen hier mit Sicherheit nicht vorbei.
Nach 20 Kilometern passieren wir das nicht mehr ganz so riesige Ortsschild mit den etwas verblassten Buchstaben und sind da. In Santo Domingo.
Santo Domingo - die Stille der Abgeschiedenheit
Die Hauswände erzählen Geschichten von Einsamkeit und Vergessen. Die Straßen sind leer. Die Stille wird vom Zirpen der Grillen unterbrochen. Lebenshungrig saugen die Moskitos Blut aus meinen Armen und Beinen. Eine Natter kriecht über den Weg und hinterlässt eine Wellenlinie auf dem sandigen Boden.
Die Leiter, die ich suche, werde ich nicht finden. Ebenso wenig die Menschen, die wir in Santo Domingo anzutreffen hofften. Stattdessen unterhalten wir uns mit Schafen. Denn wieder einmal haben wir den Fehler begangen, zur Siesta-Zeit aufzuschlagen. Die rund 100 Einwohner haben sich in ihren kühlen Häusern verkrochen.
Aber zurück zum Anfang. Warum verlassen wir die gut ausgebaute Ruta Provincial 2, die Buenos Aires mit Mar del Plata verbindet, um einem stundenlangen, schilderlosen Weg über staubige Schotterpisten zu folgen?
Santo Domingo & die Sache mit der Leiter
Vor einigen Jahren habe ich eine 4-minütige Fernsehreportage über Santo Domingo gesehen, ein Dorf, dem jeder, der kann, versucht aus dem Rückspiegel zuzuwinken. Ein Dorf, stellvertretend für so viele in Argentinien. Vergessen, verlassen, verfallen. Und doch nur 20 Kilometer landeinwärts.
In der Reportage beschwerten sich die Einwohner darüber, extrem schlechten Handyempfang zu haben – und das, obwohl sich das Dorf fast in der Nähe größerer Ortschaften befindet. Auf der Plaza sei der Empfang noch einigermaßen passabel, mit ein wenig Glück könne man von dort eine SMS verschicken. Um dem Glück etwas auf die Sprünge zu helfen, wurde eine Leiter aufgestellt. In guter argentinischer Manier reihten sich die Menschen brav hintereinander ein und jeder durfte auf die Leiter klettern und sein Glück mit der SMS versuchen.
Nach dieser Reportage war mein nächstes Reiseziel klar: Santo Domingo.
Das 1907 gegründete Dorf erlebte seine Blütezeit, als die Pampas-Region wegen ihres fruchtbaren Bodens als Kornkammer der Welt gefeiert wurde. Sogar ein Hotel gab es in Santo Domingo. Und eine Bar, in der man nicht nur das ein oder andere Gläschen trinken und Schach spielen konnte, dort gab es auch Lebensmittel und alles, was man für Haus, Hof und die Familie brauchte. Ein praktischer Alles-in-Einem-Laden. Heute sind davon nur blasse Anekdoten übriggeblieben. Die einst Hoffnung verheißende Zukunft ist zu Staub verfallen wie die meisten Häuser.
Mein Plan war es, mit den Menschen in Santo Domingo zu sprechen und ebenfalls eine SMS von der Leiter verschicken.
Aber auf meinem Rundgang treffe ich nur Schafe. Die Leiter ist in der Zwischenzeit überflüssig geworden, denn mittlerweile steht hier prächtig und für alle sichtbar der Stolz der Bewohner: ein Funkmast.
Der ehemalige Bahnhof von Santo Domingo: Heimat der Schafe
Statt Menschen und Leiter finden wir etwas anderes: den ehemaligen Bahnhof. Ein hübsches, verlassenes Gebäude, wie fast alle Bahnhöfe in kleineren Ortschaften in Argentinien. Wir versuchen den Geschichten zu lauschen, die sich zwischen den grasbewachsenen Gleisen und hinter den dunkelgrünen, für immer verschlossenen Holztüren verstecken. Aber wir hören nur Schafe. Denn die scheinen die neuen Besitzer des Bahnhofes zu sein. Und so wirklich überzeugt von unserem Besuch sind sie nicht.
So verlassen wir Santo Domingo nach einigen Mäh’s und Muh’s in einer riesigen Staubwolke, die die Ruhe des Dorfes zu zerstören droht.
Auf unserem Weg durch die Pampa treffen wir einen einsamen Gaucho auf seinem Pferd, der uns freundlich zuwinkt. Ein paar Kühe haben sich ein halb zerfallenes Haus zu ihrem Eigen gemacht.
Bis wir wieder Asphalt unter den Rädern haben, kommen wir an zwei weiteren Ortschaften vorbei. Segurola und Invernadas bestehen aus je ein bis zwei Häusern. Auch hier sehen wir keine Menschenseele. Die Sonne sticht immer noch gleißend vom Himmel, und außer ein paar aufgescheuchten Hühnern, Pferden und Schafen wagt sich niemand hinaus. Die Pferde machen es richtig, sie gönnen sich ein kühles Bad in den Lagunen. Ich werde es ihnen gleichtun, sobald in Mar de las Pampas der weiche Sand an den nackten Füßen kitzelt.
Unterwegs in der Pampa: Von Santo Domingo nach Segurola
Unterwegs in der Pampa: Von Segurola nach Invernadas
Zurück in der Zivilisation: General Madariaga
27 Kilometer vom Meer entfernt – fast schon schmecken wir das Salz auf den Lippen – hat die Siesta ein Ende. In General Madariaga kaufen wir Fleisch für das obligatorische Asado, mit dem wir jedes Jahr unsere Auszeit am Meer beginnen.
Mar de las Pampas - Herzensort mit Meeresrauschen
Nach einer kurzen Fahrt biegen wir in Pinamar, einem schicken Ferienort auf die Ruta Provincial 11 ab. Der Duft der Pinienwälder und die Sanddünen verraten es, wir sind da! Am Meer!
Mar de las Pampas mit seinen idyllischen Stein- und Holzhäuschen und den sandigen Straßen mitten im Wald ist unser Ort zum Runterkommen und den Alltag vergessen.
Die stürmische See, der weitläufige Strand, die Dünen.
Wir sind angekommen!
Zeit, die Füße tief im warmen Sand zu vergraben und dem Wellengang zu lauschen, während sich der Himmel allmählich in Gold, Rosa, Violett und Rot kleidet und das Steak auf der parrilla vor sich hin brutzelt.
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