Miramar de Ansenuza ist ein kleiner Ort an der Küste der Laguna Mar Chiquita, übersetzt kleines Meer, einem Salzsee in Zentralargentinien. Während sich dort vor rund 100 Jahren wohlhabende Europäer und Argentinier die Sonne auf den Bauch scheinen ließen, ist der Ort aufgrund einiger Überschwemmungen im ausgehenden 20. Jahrhundert etwas in Vergessenheit geraten. Doch nun, da es beschlossene Sache ist, dort einen neuen Nationalpark zu gründen, wird sein Schattendasein wahrscheinlich bald ein Ende finden.
Ich habe Miramar im November 2021 besucht und nehme Dich in diesem Artikel mit in diesen Ort, den ich erst auf den zweiten Blick lieben gelernt habe.
Miramar - zwischen Casino & Kilometer Null
Das kleine Holzhäuschen, das wir für unseren Aufenthalt an der Laguna Mar Chiquita in der Provinz Córdoba mieten, liegt in zentraler Lage neben dem Casino und nur 500 m vom „Kilometer 0“ entfernt. Mit diesen stolzen Worten beschreibt der Besitzer seine Unterkunft. Der kleine Ort Miramar hat also einen Kilometer Null, ein Zentrum, wo alles beginnt bzw. endet.
Miramar: kreative fahrbare Untersätze
Das erste, was ich sehe, als wir die Polizeikontrolle am Dorfeingang passiert haben, ist ein überdimensionaler, motorisierter Flamingo. Damit schmückt ein Taxifahrer sein Gefährt. Es handelt sich um eine Art Motorrad-Rikscha mit eben jenem Flamingo-Zusatz. Und Boxen, aus denen in voller Lautstärke Cumbia-Beats dröhnen. Breit grinsend und sichtlich stolz auf sein Gefährt kutschiert der Taxifahrer fußmüde Argentinier durch den kleinen Ort.
Uber mal anders
Kreativ sind die Menschen hier allemal. Denn neben dem Flamingo-Taxi gibt es auch Fahrrad-Rikschas, für die an jeder zweiten Straßenecke geworben wird. Glückliche Familien strahlen ausgelassen von den Plakaten und suggerieren: das ist die beste Art, sich in Miramar fortzubewegen. Das Unternehmen nennt sich im Übrigen Uber. Lässt sich aber nicht per App bestellen. Das braucht’s hier aber auch nicht, denn jeder kennt jeden, und Uber befindet sich immer irgendwo in der Nähe. Wahrscheinlich beim Casino. Oder dem kilómetro cero.
Fröhlich laut im Partyzug durch Miramar
Ein weiterer fahrbarer Untersatz ist der „trencito“, der Partyzug. Er dreht regelmäßig seine Runden zwischen dem Casino und dem Punkt Null. Durch ständiges Hupen fordert der Fahrer die Fußgänger zum Gruße auf. Das Hupen wäre eigentlich nicht nötig, denn seine Disco-Musik hört man im gesamten Ort. Zum berüchtigten „Bombón asesino“ mit seinem nicht gerade jugendfreien Text, grölen Groß und Klein lautstark mit, und der Fahrer drückt noch einmal mehr auf die Hupe. Die Sonnenanbeter, die sich am Strand wie die Sardinen in der Büchse tümmeln, winken dem Partyzug fröhlich zu.
La vuelta del perro
Als die Sonne tiefer steht – die Menschen haben sich längst für den Abend rausgeputzt – mischen sich unzählige Privatautos unter Trencito, Flamingo-Motorrad und Uber. Es ist Zeit für die „vuelta del perro“, die Hunderunde:
Im Schritttempo fahren die Autos dicht an dicht hintereinander her, die Scheiben sind heruntergelassen, jeder gibt seine Lieblingsmusik preis. Am Casino wird umgedreht, es geht zurück ins Zentrum, dann wieder zum Casino und so weiter.
Ein typisches Ritual, dem man in ganz Argentinien vor allem in Dörfern und Kleinstädten begegnet.
Sehen und gesehen werden, zeigen, was man hat und wer man ist. Das zieht sich gut und gerne bis zum Abendessen gegen 22 Uhr hin.
Erst gegen Mitternacht wird es allmählich ruhiger in den Straßen von Miramar.
Auch Uber, Moto-Flamingo und Trencito haben sich nun den Feierabend verdient.
Mar Chiquita - bizarrer Charme
Bizarr dieser Ort. Eine Mischung aus Mar del Plata und Disneyland in Miniatur. Das Zentrum – kunterbunt glänzend herausgeputzt, doch Glanz und Gloria erwecken den Eindruck einer Fassade. Dahinter wirkt vieles heruntergekommen, vergessen. Ist es wahrscheinlich auch, wenn man sich die Geschichte des Ortes vergegenwärtigt.
Liebe auf den ersten Blick sieht zweifelsfrei anders aus.
Ganz anders präsentiert sich uns Miramar am nächsten Tag. Über Nacht scheint das Dorf von Gott und der Welt verlassen worden zu sein. „Das ist immer so, unter der Woche kehrt Ruhe ein“, erklärt uns Vermieter Víctor. Der See ist ein Naherholungsgebiet für die Menschen aus der Region, insbesondere Santa Fesiner entfliehen jedes Wochenende der Hitze ihrer Stadt, um hier, fernab der Altantik-Küste, Sonne und „Meer“ zu genießen. Lautstark zu genießen! Denn wer sagt schon, dass Genuss im Stillen geschehen muss!?
Laguna Mar Chiquita - ein paar Fakten rund um den Salzsee
Die Laguna Mar Chiquita, auch Mar de Ansenuza genannt, liegt in Zentralargentinien im Nordosten der Provinz Córdoba, und erstreckt sich bis in die Provinzen Santa Fe und Santiago del Estero. Der einzige Ort in unmittelbarer Ufernähe ist Miramar de Ansenuza. Der Begriff Meer ist etwas irreführend, da Mar Chiquita kein Meer, sondern ein salzhaltiger See ist.
Wie das Kaspische und Tote Meer, ist auch Mar Chiquita ein endorheisches Gewässer, also ohne Verbindung zum Ozean. Der See wird zwar von drei Flüssen gespeist, hat aber selbst keinen Abfluss. Deswegen unterliegt die Ausdehnung abhängig von den Niederschlägen starken Schwankungen. Der Höchststand lag im Jahr 1958 bei rund 10.000 Quadratkilometern, der niedrigste bei 2000.
Auf die Fläche bezogen ist Mar Chiquita der größte See Argentiniens.
Je nach Wasserstand schwankt auch der Salzgehalt, und zwar nicht unerheblich: zwischen 25 und 360 (im Jahr 1911) Gramm pro Liter wurden im vergangenen Jahrhundert gemessen. Verdunstet das Wasser, bleibt Salz zurück. Derzeit liegt der Salzgehalt bei rund 60 Gramm pro Liter. Zum Vergleich: Der Salzgehalt des Atlantiks liegt bei etwa 35 Gramm pro Liter. Das bedeutet, man kann stundenlang regungslos auf dem Wasser treiben und geht nicht unter. Oder man „steht“ senkrecht im Wasser ohne Boden unter den Füßen zu haben. Brustschwimmen hingegen ist hier alles andere als einfach.
Mar Chiquita - im Wasser stehen, liegen, sitzen; alles nur nicht schwimmen!
Wir machen es den anderen Besuchern gleich und liegen oder stehen schwebend stundenlang im warmen Wasser. Am Ufer gibt es einige Duschen, sodass man sich das Salz nach dem Bad direkt abwaschen kann. Neben dem salzigen Spaß weist das Wasser auch zahlreiche Mineralien auf, die bei diversen Krankheiten wie Rheuma helfen sollen. Fangokuren gibt’s heute in der hiesigen Apotheke zu kaufen oder auch direkt am Ufer. Denn mehrmals täglich sehen wir einen Mann mit einem Eimer weit raus schwimmen und untertauchen. Sichtlich erschöpft – Schwimmen ist in der salzhaltigen Lagune ein wahrer Kraftakt – kommt er zurück und stellt den mit Schlamm gefüllten Eimer vor den fröhlich schnatternden Damen ab, die sogleich beginnen, sich damit einzureiben.
Reise in die Vergangenheit: Miramar wird zum Touristenmagnet
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Miramar de Ansenuza zu einem beliebten und frequentierten Kurort, dem auch viele Europäer einen Besuch abstatteten. In den 1950er Jahren zählte der kleine Ort 109 Hotels, darunter das von einem Deutsch-Österreichischen Ehepaar geführte 5-Sterne Hotel Gran Hotel Viena, das heute in Ruinen liegt und im Rahmen eines geführten Rundgangs besichtigt werden kann.
Überschwemmungen & Neuanfang
Einen Einbruch erlitt die florierende Tourismusindustrie durch eine Überschwemmung in den 1950er Jahren. Zum Stillstand kam sie bei einer weiteren, heftigeren Überschwemmung 1977. Starke Niederschläge ließen das Wasser der Lagune über die Ufer treten, weite Teile des Ortes wurden geflutet.
Sieben Jahre stand Miramar unter Wasser, die Menschen verloren ihre Häuser und ihre Arbeit. Im 1984 begann der Pegel allmählich wieder zu sinken.
Anfang der 1990er Jahre beschloss die Stadtverwaltung, die überschwemmten Gebiete zu sprengen und eine neue Uferpromenade aufzubauen. Alles schien auf einem guten Weg zu sein, als der Pegel im Jahr 2003 erneut anstieg. Die Überschwemmung war nicht so gewaltig wie in den 70ern, doch mussten die Menschen abermals evakuiert werden.
Seither schützt ein Damm den Ort vor weiteren Überschwemmungen, die Küstenpromenade wurde weiter ausgebaut und lädt vor allem in den goldenen Abendstunden zum Spaziergang ein.
Die Geschichte von Miramar erinnert an die des Geisterortes Epecuén. Wie dort ragen auch hier Überreste ehemaliger Gebäude aus dem Wasser. Die Geschichte ist präsent. Manche Menschen haben ihr Zuhause einmal, manche zweimal und manche sogar dreimal verloren. Und immer wieder von vorn angefangen.
Heute ist der Tourismus zurück in Miramar, zumindest der nationale. Die vor 100 Jahren in Europa bei Kurgästen beliebte Destination ist heute außerhalb Argentiniens ein Geheimtipp mit wenigen internationalen Gesichtern.
Aktivitäten in Miramar de Ansenuza
Neben Baden, Fangotherapie und der Besichtigung des Gran Hotel Viena bietet Miramar einige weitere Aktivitäten wie:
Bootstouren zu einer Flamingo-Kolonie, Kajak, Kitesurfen, Vogelbeobachtung, Reiten, Besuch einer Nutria-Zucht (übrigens auch eine der lokalen Spezialitäten) oder einer geführten Tour zu den Ruinen der von Deutschen gegründeten Colonia Müller. Und nicht zur vergessen natürlich: ein Besuch im Casino und ein Foto am Kilometer Null – dort weist auch schon ein Schild darauf hin, dass man sich doch bitte proaktiv als Fotograf für Unbekannte anbieten solle, damit jeder, wirklich jeder, mit einem Erinnerungsfoto von Miramar de Ansenuza nach Hause kommt.
Weitere Informationen zu den Aktivitäten bekommt man in der Touristeninfo, Adresse: General Paz 465, an der Plaza, nicht zu verfehlen, da unmittelbar neben einem Riesenflamingo.
Mar Chiquita wird Argentiniens nächster Nationalpark
Der gesamte See sowie ein Teil des sumpfigen Mündungsgebietes des Río Dulce, wo zahlreiche Flamingos leben, stehen unter Naturschutz. Im August 2021 übergab die Provinzregierung das Gebiet dem Staat zur Schaffung eines Nationalparks.
Es wird nach den bereits bestehenden Nationalparks Quebrada del Condorito und Traslasierra der 3. Nationalpark der Provinz Córdoba, und einer der größten des Landes. Miramar rüstet sich erneut für eine glorreiche Zukunft. Der Weg ist geebnet, aber vieles muss noch verändert, verbessert und angepasst werden.
Ich bin mir sicher, dass der spezielle Charme des Salzsees und des etwas skurril anmutenden Ortes Miramar de Ansenuza auch dann erhalten bleibt, wenn infolge der Nationalparkgründung erneut internationales Publikum auftauchen wird.
Miramar verschlägt einem vielleicht nicht die Sprache wie die Giganten Argentiniens mit magentischer Anziehungskraft, zeigt sich aber authentisch argentinisch für Geschichtensammler und Lebensliebende.
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