Mal ist es eine 60 Meter hohe Gletscherwand, mal eine buntbefelste Hochebene oder ein im grünen Dickicht versteckter Wasserfall, mal ist es die irrsinnige Erfahrung der Einsamkeit in weiter Landschaft, ein funkelndes Sternenmeer, ein lustig watschelnder Pinguin oder ein stiller Huemul. Dann wieder ist es ein Lächeln, ein Augenzwinkern, ein ehrlich gemeintes Willkommen und eine Nacht, gefüllt mit warmen Worten. Immer sind es Begegnungen, Erlebnisse und Geschichten, die auf den Reisenden zustolpern. Man wird gefunden ohne zu suchen, von Momenten, die beseelen und unvergessen bleiben, immer individuell und einzigartig. So auch diese kleine Geschichte.
Tausende Kilometer sind wir gefahren bis hierher, an den vergessenen Rand, wo Chile greifbarer ist als die himmelblau-weiße Flagge. Tausende Minuten Schotterstraßen und Schlaglochpisten von Buenos Aires entfernt, treffen wir auf behagliche Wärme. Zumindest in diesem einen Haus. Der Rest der kleinen Siedlung ist grauverstaubt von nicht erfüllten Wünschen.
Dora empfängt uns mit jener wohligen Menschlichkeit, die einem oft an Rändern begegnet. Wo Himmel und Horizont in einem wirbelnden Tanz der Staubkörner aufeinanderprallen. Wo sich konturlose Unschärfe über den Tag legt, gestern, heute und sehr wahrscheinlich morgen ebenso. Wo allerlei Einsamkeiten tiefe Falten in die Haut gegraben haben – aber eben auch jenes schüchterne und zugleich verschwenderische Lächeln.
Draußen singt der Wind in schmerzendem Bass. Drinnen köchelt der Eintopf vielversprechend vor sich hin. Warmer Dampf steigt auf und nimmt die Küche ein. Die Katze schleicht schnurrend um meine Beine. Während wir Gemüse schneiden und in den Töpfen rühren, erzählt Dora mir ihre Geschichte. Wahrscheinlich schon zigmal gehört, sucht die Katze – immer noch schnurrend – das Weite.
Nebenan sitzt Alfredo, Doras Mann, auf einem knarzenden Holzstuhl und liest. Er zeigt sich von ihren Worten ebenso wenig beeindruckt wie die Katze. Die Geschichten wiederholen sich in dieser stillen Welt. Nur für die wenigen Besucher sind sie immer neu. In diesen Tagen sind wir die einzig lauschenden Ohren.
Außerdem ist da der schweigsame Emiliano, Alfredos Neffe. Anfang 20 vielleicht, ebenfalls mit einem zurückhaltenden Lächeln und bereits den ersten – äußerlich nicht sichtbaren – Narben des Lebens. In seiner Heimatstadt an der Küste lockte der Teufel mit zig Versuchungen, lauerte hinter jeder Ecke. „Ich hab halt zu viel Scheiß gebaut“, gesteht er und blickt beschämt auf den gefliesten Boden. Deswegen schickten ihn seine Eltern an diesen gottverlassenen Ort, wo er das „Scheiße bauen“ gegen körperliche Arbeit und Herumstreunern im leeren Raum eintauschen sollte. Statt dem Teufel blickt er nun dem Puma ins Gesicht – und das deutlich seltener.
Zurück zu Dora. Ihre Geschichte ist auch die Geschichte dreier spanischer Brüder, die Anfang der 1930er Jahre in Buenos Aires von Bord gingen. Mit wenigen Habseligkeiten im Gepäck, aber mit einem Kopf randvoll mit Träumen. Und der Hoffnung, die Zukunft zu finden. Der Traum von vielen. The Patagonian Dream. Und es ist die Geschichte von drei arabischen Schwestern, Töchter eines reichen Kaufmannes. In den Weiten Argentiniens gab es für ihre Träume keinen Platz.
Es ist unterm Strich eine typisch argentinische Geschichte. Gemischt mit trockenem Pragmatismus, seichter Liebe, harter Arbeit, rauem Wind und schwindenden Träumen. Doras sanfter Singsang geht eine eigenartige Symbiose mit diesem rauen Ort ein. Alles passt zusammen. Ich hänge an ihren Lippen, bis sie beschließt: Der Eintopf ist fertig.
Das Essen schmeckt wunderbar und wärmt. Dora hört auf zu erzählen. Der Wind wird zum Sturm und wir werden – mit glücklich vollem Magen – allmählich müde. Also jetzt: ein gemütliches Bett und wunderbar einschlafen mit patagonischer Böenmusik.
Doras Land - eine Reise durch Erd- & Menschengeschichte
Der nächste Tag. Windblau und sommerhell. Dora gibt uns den Schlüssel. Und verrät, wo sich das passende Schloss befindet. Das Schloss, das ihre Vergangenheit aufleben lässt. Auf dem weiten Grundstück finden wir aber nicht nur Doras Geschichte, sondern auch unsere eigene, ein Stück Menschengeschichte, eingeritzt in rote Felsen, zerstreut auf dem staubigen Boden, Jahrtausende überdauert.
Weiter Blick über weites Land. Klein, dort wo die Bäume stehen, das Dorf, das es damals nicht gab. Verfallen steht sie vor uns, Doras berankte Vergangenheit. Die meisten Fenster sind zugeklebt. Einen Blick ins spinnwebenverhangene Wohnzimmer können wir erhaschen. Im sonst leeren Raum erinnert ein alter Schaukelstuhl daran, dass hier einst gelebt wurde. In meinem Kopf hauche ich der Estancia Leben ein, Bilder von knisternd-warmen Kaminabenden ziehen vorbei. Ich romantisiere dieses vermaledeite Patagonien, wie so oft.
Zeugin verstaubter Träume: die alte Estancia
Wir klettern über das marode Holztor zurück in Richtung Gegenwart. Und die riecht verlockend nach: selbstgemachter Pizza. Bereits in den frühen Morgenstunden machte sich Dora ans Teigkneten. Sie drückt uns die dampfende Köstlichkeit in einem Karton in die Hand, nirgendwo schmecke Pizza so gut wie am Seeufer – selbstverständlich erst nach einem Bad im eiskalten Nass. Recht sollte sie behalten. Diese Pizza – wir haben sie bis heute nicht vergessen! Ebenso wenig wie das blassgoldene Nachmittagslicht, das sich auf den Seen zur Siesta niederlegte.
An den Seen Lago Posadas & Lago Pueyrredón
Ein paar Stunden später – tintenschwarz liegt die Nacht über den Dächern – ist Schluss mit Schönfärben. Dora und Alfredo erzählen von über 60 gelebten Wintern in dieser unwirtlichen Gegend, von der Mühsal, für größere Einkäufe hunderte Kilometer durch die argentinische Steppe zurücklegen oder (und das geht deutlich schneller) über die Anden nach Chile fahren zu müssen, vom Wunsch nach einem Leben außerhalb der Vergessenheit, mit Anschluss ans moderne Leben, mit Handyempfang – alles dürfe gerne ein kleines bisschen mehr pulsieren. Jedoch nicht zu viel.
Leise Träume, sie bleiben. Und auch das Lächeln weicht nicht aus ihren Gesichtern.
Schwermütig verlassen wir das Dorf am nächsten Morgen, zurück auf den Schotter, hin zu neuen Geschichten.
Vier Jahre sind seither vergangen, und wir sprechen oft über sie, Dora, Alfredo und Emiliano im fernen Lago Posadas, das eigentlich Hipólito Yrigoyen heißt.
Doras Geschichte kannst Du in meinem Buch 111 Gründe, Argentinien zu lieben nachlesen (Grund 88: "Weil man auf einer Estanzia in vergangene Zeiten eintauchen kann")
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