"Das Virus sucht nicht euch, sondern ihr sucht das Virus, und zwar, indem ihr rausgeht."
Die Worte des Präsidenten Alberto Fernández sind in den letzten fünf Monaten in Fleisch und Blut übergegangen. Sie kommen mit, als ich die Wohnung verlasse. Sie hämmern in meinen Ohren, als ich am Flughafen Ezeiza in der Schlange stehe. Sie schreien mich vorwurfsvoll an, als ich im überfüllten Flugzeug Platz nehme. Sie begleiten mich im Amsterdamer Transit. Sie schmerzen, als ich am Flughafen Stuttgart das bekannte Gesicht aus der Ferne grüße. Sie sind knapp eine Woche später nur noch ein leises Echo, das ich mir immer wieder ins Bewusstsein rufe.
#quedate_en_casa – bleib zu Hause & kleine Frischluft-Freuden
Fünf Monate.
Viele Tage innerhalb dieser 5-monatigen sozialen (und räumlichen) Isolation verliefen ohne große Gedanken oder Gefühle. Ich konnte mich in Arbeit stürzen und war verblüfft darüber, wie schnell die Zeit verging.
Es gab aber nicht nur jene vor sich hin plätschernden Tage.
Es gab auch außerordentliche mit großen Gefühlen. Im Regen spazieren gehen und sich völlig aufweichen lassen. Die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut fühlen – selten, aber dafür umso intensiver.
Nach der ersten Lockerung nachts offiziell raus zu dürfen und anderen Menschen auf ihren Fahrrädern oder in ihren Laufschuhen ein Lächeln zu entlocken.
Der vielleicht allergrößte Moment: Die Grenze ins gesichtslose Nachbarviertel Puerto Madero, in dem Häuser in den Himmel wachsen, die in jeder x-beliebigen Großstadt gleich aussehen, zu überschreiten, Buenos Aires hinter mir zu lassen, abzutauchen in eine andere Welt, in den großen Parkanlagen die Farbe Grün zu riechen, Papageien fröhlich schnattern hören, den Blick über die Lagune schweifen lassen, über deren mit Algen bewachsenem Wasser lautlos Enten, Nutrias und Schildkröten gleiten, und schließlich unter Tränen einem Baum die Freundschaft erklären.
Dann waren da die grauen Tage, ebenfalls viele. Apathisch blickte ich wie ein Außenstehender auf mich selbst, konnte nicht eingreifen. Lag regungs- und gedankenlos auf dem Bett, hatte keine Kraft, etwas aus den Stunden des Tages zu machen. Während des Lockdowns in Deutschland sprachen in den Medien viele davon, dass man nun endlich Zeit für all die aufgeschobenen Dinge hatte. Ein gutes Buch lesen zum Beispiel.
Irgendwann hat man alles zu genüge getan. Viele Bücher gelesen, Serienmarathons hinter sich, die Festplatte ausgemistet, ebenso die Wohnung, die selten so sauber war, mit Freunden telefoniert, eigene Projekte in Angriff genommen, neue Rezepte ausprobiert, ausgeschlafen.
Dann drehen sich die Gedanken nur noch um ein Wort: raus! Und wenn man nicht darf? Dann antwortet der Körper irgendwann mit Lethargie.
Die Maskenpflicht. Als ich vor etlichen Monaten zum ersten Mal das Haus mit Maske verließ, kam ich mir seltsam vor, ein leichtes Gefühl jugendlicher Scham kroch in mir hoch, als ich mich im Spiegel betrachtete und dachte, sieht das bescheuert aus. Mittlerweile gehört die Maske zur Grundausstattung. Ich verlasse das Haus schließlich auch nicht ohne Kleider.
Quarantäne-Weltmeister Argentinien
„Ja ja, ihr seid ja Weltmeister in Sachen Quarantäne da drüben“
Quarantäne-Weltmeister, das stand mal in einer deutschen Tageszeitung.
Mich erreichten in den letzten Monaten Mails, in denen von „Staatsterrorismus“ und „Diktatur“ die Rede war. Wörter, die alle schaudern lassen, die tatsächlich eine Diktatur erlebt haben.
Dieser Artikel soll kein politisches Statement sein, aber so viel sei doch gesagt: Mit Staatsterrorismus hat das überhaupt nichts zu tun! Es geht darum, Menschenleben zu retten. Denn hinter „9000 Tote“ verbergen sich Menschen, Gesichter, Namen, Leben, die froh gewesen wären, fünf Monate oder länger eingesperrt gewesen zu sein, wenn sie dafür noch am Leben sein könnten.
Es geht darum, den Menschen vor sich selbst zu schützen, da er den Versuchungen des gewohnten Lebens kaum widerstehen kann. Wir sollten in unserem Urteil vorsichtig mit Vergleichen sein. Deutschland ist nicht Argentinien, und umgekehrt.
Und um ein bisschen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Auch in Argentinien lebten wir die letzten fünf Monate nicht komplett hinter Schloss und Riegel, selbst wenn es sich für mich so anfühlte.
Es gab Öffnungen in kleinen Schritten.
Außerhalb des Großraums Buenos Aires, in dem die Menschen dicht an dicht leben, wurde das „normale“ Leben weitgehend wieder aufgenommen, die Medien allerdings berichten lieber von der Dauer-Quarantäne in Buenos Aires. Leider stieg in einigen Provinzen die Zahl der Infizierten nach den Lockerungen rasant an, sodass es wieder einen Schritt zurückging.
Die porteños in Buenos Aires wurden zu Nachtjoggern. Um zu verhindern, dass sich die Wege der Frischluftsuchenden mit Arbeitenden in systemrelevanten Berufen kreuzten, durften wir zwischen 18 und 10 Uhr raus zum Sport machen und Spaziergengehen. Viele Avenidas wurden während dieser Stunden zu Fußgängerzonen erklärt.
Auch die kleinen Läden haben seit einiger Zeit wieder geöffnet, zumindest diejenigen, die die Monate zuvor überlebt haben.
Der Staat übernimmt seit Monaten 50 % der Gehälter von Kleinunternehmen.
Es gibt Nachbarschaftshilfen und organisierte Essensausgaben in Marginalvierteln.
Es gibt keine Versorgungsengpässe und die Restaurants versuchen sich mit Delivery über Wasser zu halten.
Die meisten Parks haben wieder geöffnet.
Seit Montag sind Treffen von bis zu 10 Personen im Freien erlaubt.
Der von der Oxford University entwickelte Impfstoff wird in Argentinien hergestellt. Eine schöne Sache, da so nicht nur die Immergleichen ein Stück vom Kuchen abbekommen.
Und alle haben die Hoffnung, dass man, wenn die Temperaturen bald steigen und es Frühling wird, wieder in den Genuss von ein bisschen Normalität kommt.
Chau Chau Argentina – Luftgedanken
Angesichts der Lage in Lateinamerika kommt mir mein naiver Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben und eben jenen Freiheiten egoistisch und vermessen vor. „Hey, Virus, ich hab nach fünf Monaten keine Lust mehr auf dich, also führe ich ab jetzt ein Leben wie zuvor!“ – das funktioniert so ja leider nicht. Höchstens vielleicht ein bisschen. Denn als ich im monotonen Alltagsbrei meiner 44 Quadratmeterwohnung von Sonderflügen nach Europa hörte – der reguläre Flugverkehr wurde bisher nicht wieder aufgenommen – war es beschlossene Sache, Passagier an Bord einer dieser Flüge zu werden. Sofort war die Kreditkarte gezückt, meine Daten eingegeben und wenige Minuten später ließen die Worte „Ihre Buchung war erfolgreich“ meine Augen schon wieder feucht werden.
In unserer Einsamkeit begleiteten wir uns fünf Monate und eine Woche lang. Jetzt habe ich die Notbremse gezogen. Mir meinen bordeauxroten Reisepass geschnappt, der mich in die Freiheit bringt, und die Hauswände von Buenos Aires gegen Frischluft eingetauscht.
Zumindest bald. Gerade sitze ich im Flugzeug. Unter uns ist noch Land, aber in Kürze wird der Pilot Kurs auf das weite Blau nehmen, an dessen Ende Europa liegt. Lasse die
Gedanken schweifen, die letzten Wochen und Monate Revue passieren.
Ich bin verwöhnt vom guten Leben, mein deutscher Pass ist ein Privileg. Dafür bin ich dankbar, sehr dankbar. Gleichzeitig spüre ich einen Schmerz, weil ich so einfach entfliehen kann, meine lieben Freunde aber weiterhin gegen ihre negativen Gedanken, Emotionen und die eigenen vier Wände ankämpfen müssen.
Privilegiert bin ich auch in Buenos Aires, wo ich eine helle Wohnung mit Balkon habe, von dem aus ich ganz ohne Hindernisse den Himmel sehen kann. Andere haben nicht mal ein Fenster oder blicken auf eine trostlose Häuserwand.
Privilegiert durch und durch, und (vielleicht gerade dadurch) nicht krisenresistent.
In den letzten Wochen wurde die Auswirkungen des Eingesperrt-Seins, der Isolation, der Einsamkeit, der Bewegungslosigkeit, physisch wie psychisch stärker.
Nun muss ich Kopf und Herz erst einmal wieder mit Leben füllen.
Ich werde mir etwas von dem zurückholen, was ich in den letzten fünf Monaten am meisten vermisste. Dazu gehört unter anderem:
- einen Menschen umarmen und dessen Wärme spüren (Darf man sich umarmen? Eine Frage, die ständig in meinem Kopf herumschwirrt)
- ein Tier streicheln, am liebsten: Pferd, Katze, Hund (in dieser Reihenfolge)
- ein Gespräch mit einer Freundin führen, von Angesicht zu Angesicht
- den Wald riechen
- in der Natur sein und gehen, gehen, gehen (Ziel: Körperschmerz von der Bewegung, nicht der Bewegungslosigkeit)
Angekommen!
Es tut gut ein Stückchen (wackelige) Normalität zu fühlen. Zugleich kann ich dieser „Normalität“, der in Deutschland seit Langem wieder nachgegangen wird, nicht trauen. Sätze wie „damals zu Corona Zeiten“ (Memo an mich selbst: Sie meinen wahrscheinlich den Lockdown und wollen damit NICHT sagen, dass es das Virus nicht mehr gibt) lassen mich aufschrecken, ebenso diese Routinen, denen wieder nachgegangen wird, und die Strand- oder Bergurlaube und Städtetrips, auf die nicht verzichtet werden kann. Man kann es den Menschen nicht verübeln, es ist ja auch allzu verlockend. Aber ich brauche erst einmal Zeit, um mich an diesen neuen-alten Rhythmus zu gewöhnen.
Der erschrockene Ausdruck meiner Eltern, als sie mein blasses, eingefallenes Gesicht gesehen haben. Sie haben versucht, es zu verbergen, aber ihr Blick hat mich durchbohrt. Und ich kann es ihnen nicht übel nehmen, ging es mir doch tagtäglich in Buenos Aires genauso. Deswegen habe ich irgendwann aufgehört, in den Spiegel zu schauen.
Es ist nicht wie die letzten Jahre. Ich brauche mehr Zeit zum Ankommen und mich Zurechtfinden. Fremd im eigenen Land, das fühle ich mich immer in den ersten Tagen. Nun muss ich lernen, nicht in jedem Menschen ein wandelndes Virus zu sehen, mich nicht mehr abzuschotten.
Nach einer weiteren kurzen Quarantäne bis die Ergebnisse der zwei Tests da waren, habe ich meinen Kindheitswald mit neuen Augen entdeckt. Nehme meine Umgebung, den Alltag, das gelebte Leben anders wahr. Ich genieße jeden Schritt, den ich in der Natur unterwegs sein darf.
Und dort werdet ihr mich in den nächsten Wochen finden: draußen!
Im Wald, im Tal, am Wasser, zwischen Feldern, im raschelnden Herbstblätterbad, in den Bergen.
Um eines Tages wieder – voller Energie und Leben – Reisenden die Gänsehautlandschaften Argentiniens und Chiles zeigen zu dürfen.
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Tanja (Dienstag, 08 September 2020 11:05)
Hola, liebe Simone.
Das ist ein sehr schöner und emotionaler Bericht. Ich kann das alles nachvollziehen. Wir hatten das Glück, Ende Februar noch "gerade rechtzeitig", nach einem dreiwöchigen Aufenthalt in Argentinien wieder ins Schwabenländle zurückzukehren. Seither verfolgen wir das Geschehen dort sehr genau. Haben wir doch Familie in Buenos Aires. Daher bekommen wir auch viele Details aus erster Hand mit.
Ich wünsche Dir jetzt erst einmal eine friedliche und erholsame Zeit hier.
Liebe Grüße von Tanja
Argentinien24/7 (Freitag, 11 September 2020 03:51)
Hola liebe Tanja,
vielen Dank, dass Du Deine Gedanken mit uns teilst. Ich hoffe, ihr hattet dennoch eine schöne Zeit in Argentinien und wünsche Deiner Familie in Buenos Aires alles Gute und viel Kraft! Vielleicht kannst Du ja irgendwann Deine Reise fortsetzen, das Land ist einfach viel zu schön, um es nicht zu tun. :-)
Beste Grüße, ebenfalls aus dem Schwabenländle
Simone
Ines (Donnerstag, 17 September 2020 00:27)
Liebe Simone
Dein Bericht hat mich grad sehr berührt. Ich selbst war im Februar noch in Argentinien (bin dadurch auch auf deinen Blog gestossen) und habe wunderbare Menschen kennengelernt und daher das Geschehen mitverfolgt.
Und ich kann sehr mitfühlen, wie es dir jetzt geht mit dem Wunsch, draussen zu sein. Ich bin nie soviel draussen, wie ich das während des Lockdowns war, das war ein extremes Bedürfnis. Deshalb wünsche ich dir, dass du wieder Kraft schöpfen kannst und zu dir findest, bevor du hoffentlich mit Freude wieder zurück nach Buenos Aires gehst! Viele Grüsse aus der Schweiz, Ines
Argentinien24/7 (Donnerstag, 17 September 2020 14:05)
Liebe Ines,
vielen Dank für Deine nette Nachricht und die aufbauenden Worte. Ich kann nur allzu gut nachvollziehen, dass es Dich während des Lockdowns mehr denn je nach draußen getrieben hat. Ich genieße die Natur auch in vollen Zügen, seit ich in Deutschland bin.
Vielleicht zieht es Dich ja wieder mal nach Argentinien - die Menschen, ihre Kultur & Denkweise sowie die Landschaft - alles ist großartig dort!
Beste Grüße
Simone
Ines (Montag, 21 September 2020 12:38)
Liebe Simone
Das wird es ganz bestimmt, es hat mir so gut gefallen :-)
Viele Grüsse, Ines
Frie (Sonntag, 18 Oktober 2020 10:22)
Liebe Simone,
Dein Bericht hat mich sehr berührt.
Beim Lesen sind mir ein paar Tränen über mein Gesicht geflossen. Ich weiß wie sehr du die Natur liebst und dann war plötzlich nichts mehr so wie du es gewohnt warst.
Ich freue mich, dass du in deiner Heimat, bei deinen Eltern, Schwester mit family und bei alllen........ angekommen bist. Ich wünsche dir, dass du dich hier erholst, Energie tankst, dein Seelenleben wieder ins Gleichgewicht kommt.....
Ganz liebe Grüße von Frie
Argentinien 24/7 (Montag, 19 Oktober 2020 05:20)
Danke für deinen netten Kommentar, liebe Frie! Ich hab mich gut eingelebt, alle oben genannten Wünsche erfüllt und bin jeden Tag draußen unterwegs. Kopf und Seele sind also endlich wieder im Einklang und mit Leben gefüllt.
Liebe Grüße
Simone